Projekte/Wikimania 2013/Berichte/Man77
Hongkong ist die Strapaz einer langen Anreise wert, bietet Modernes ebenso wie Traditionelles (um Hongkong zu verstehen empfiehlt sich, sich mit dem Begriff Glokalisierung vertraut zu machen) und bietet als Kontrapunkt zum Festland ("ein Land, zwei Systeme") hervorragende Voraussetzungen für wikipolitische Diskurse und zur Austragung eines Events wie Wikimania.
Reizüberflutung mit Charme: Hongkong.
Als Neuling bei Wikimania war die Veranstaltung für mich einerseits inspirierend, andererseits aber öde: Als inspirierend empfand ich, viele bekannte Namen nun auch persönlich kennenzulernen, Bekanntschaften mit Mitstreitern aus Afrika, Lateinamerika etc. zu schließen, für mich persönlich prickelnde Vorträge anzuhören (zu Indigenous Knowledge und anderen "peripheren" Thematiken) und dabei vor Augen geführt zu bekommen, dass die Wikiwelt kompromisslos global agiert und das auch fördert, wo sie kann, und dass man Teil von einem Projekt ist, das manchen Leuten wahrlich die Chancen fürs Leben verbessert (dazu eine Videoempfehlung).
GLAM: Glitzer, Licht und Schatten?
Als nicht ganz so super hab ich persönlich empfunden, dass viele Probleme, die ich derzeit vor allem in der deutschsprachigen Wikipedia wahrnehme, kein Thema waren bzw. nur sehr oberflächlich behandelt wurden (Konflikt und -lösung, Abgang von langjährigen Autoren bzw. deren Trollwerdung, Wartung von immer mehr Content etc.), wohingegen technische und vereinsbezogene Fragen einen beinahe erdrückten. Ich bekam das Gefühl, Wikimedia als Ganzes besteht zu je 40 % aus Foundation und Chaptern und nur zu 20 % aus einer Community (natürlich überlappt sich das hinsichtlich der Personen), die Wahrheit wäre aber etwas andersrum. Für jemanden wie mich, der ausschließlich aus der Community kommt, kann eine Wikimania also auch ernüchternd sein: Man ist (konträr zu meiner Erwartungshaltung) manchmal ziemlich alleine und die großen Themen der Foundation und der Chapters (Visual Editor, GLAM, etc.) werden zwar einen Effekt haben, aber die Probleme, die ich in meinem Editierumfeld sehe, nicht mildern. Auch scheinen die Leute zwar nett und sympathisch zu sein, aber grad in der Foundation hatte ich bisweilen das Gefühl, es habe sich hinsichtlich Communities durchgesetzt, lieber Regeln zu gehorchen als Probleme zu lösen.
Problem und -lösung: Fußgänger.
Was waren für mich persönlich die Highlights der Wikimania 2013 bzw. von Hongkong? Vieles, was ich rückblickend als Highlight bezeichnen möchte, war völlig ungeplant, wenn nicht unplanbar: Schokoladig schmeckender Eis-Milchtee. Der Ausblick vom Sky100. Tai Po und Tai O und Cheung Chau. Am Rande der Abschlussparty mit Oarabile plaudern. Das Angebot eines Israelis, die Community der arabischen Wikipedia beim Gründen eines Chapters (oder was die Foundation pässlich findet) zu unterstützen. Ernährungstechnisches. Peter Gallerts Reflektionen über Wissensformen in seinem Vortrag. Mit der Iberocoop im Bus nach Shek O El pueblo unido singen, gefolgt von 1, 2, 3, thank you, Sue (الله يرحمها). Charles Moks Keynote. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Es hätten ja nicht gleich Hüherkrallen sein müssen, aber …
Zur Organisation will ich geschrieben haben, dass mich das Team von Wikimedia Hong Kong samt der freiwilligen Helfer bei der Wikimania zutiefst beeindruckt hat, insbesondere aufgrund des kaum vorhandenen Alters der Beteiligten. Die Veranstaltung war nicht perfekt organisiert (das Fehlen kurzer, intuitiver Wege am Veranstaltungsort und Transport sowie Buffets bei den Partys seien erstrangig genannt), und auch traf das Konzept nicht immer meinen Geschmack, der gerne mehr Hongkong und weniger vermuteter kleinster gemeinsamer Nenner gehabt hätte. So war der Löwentanz zur Eröffnung zwar nett anzuschauen, aber völlig dekontextualisiert. Hinsichtlich der Vorträge und der allgemeinen Themensetzung hätte ich durchaus eine zentralere Rolle fürs östliche Asien als angebracht empfunden. Und Wiener Würstel auf einer Strandparty in China sind schon kein Scherz mehr, vor allem bei fehlender Alternative. Ich könnte den Organisatoren auch dafür böse sein, oft mehrere für mich brennend interessante Vorträge gleichzeitig stattfinden zu lassen, aber das wäre noch billiger als die Star Ferry. Definitiv aber war da zu wenig Zeit, was aber Konferenzen dieser Dichte eher allgemein inhärent ist.
Neue Triebe in der Wiki-Welt. Auch in widriger Umwelt kann und will Wikipedia.
Das große Thema der Wikimania aus meiner ganz persönlichen Sicht war die Internationalisierung, Interkulturalisierung, Integration des Noch-nicht-Integrierten, Erschließung des Noch-nicht-Erschlossenen oder wie auch immer man das nennen möchte, was sich wie ein roter Faden durch viele der von mir besuchten Vorträge zog. Diesem Prozess stehe ich sehr positiv gegenüber, würde ihn gerne stärker unterstützen, wenn ich denn wüsste wie, und fühle mich wegen dieses mühsamst wieder hervorgekramten Beitrags hier auch ein klein wenig als Prophet. Die Wiki-Welt zeigt nun ernsthaft Anstalten, Afrika zu „aktivieren“, Ideen für kleine Sprachen zu entwickeln, für alle und zwar wirklich alle zugänglich sein zu wollen etc. Von Projekten wie Wikipedia Zero und Kiwix erfuhr ich erstmals in Hongkong, beide sind toll und hoffentlich vorbildhaft, auch wenn sie in der deutschsprachigen Wikipedia, aus der ich komme, wohl nur kaum neues Publikum zu akquirieren instande sein werden (zumindest im Vergleich mit anderen Wikis). Berührt hat mich auch, dass sich Leute sehr bemühen, indigenen Sprachen und indigenem Wissen die Flügel zu heben. Trotz allem steht man hier erst am Beginn eines Prozesses und man tut sich scheinbar noch schwer manche Problemlösung über derzeitige Bylaws zu stellen (ich spreche hier die übernationale arabische Community an, die ein Chapter gründen, nicht aber eine informellere Usergroup bilden möchte, und zuerst über die nötige Grundeigenschaft eines Chapters, sprich ein unabhängiger Staat oder eine große US-Stadt zu sein, informiert wird, und das ironischerweise in einem Territorium, das ein Chapter hat, ohne unabhängiger Staat oder amerikanisch zu sein). Dass das Board mittlerweile je zur Hälfte männlich und weiblich bestückt ist, ist da sicher auch kein schlechtes Zeichen, doch täuscht diese Freude darüber hinweg, dass nicht nur Transgender-Personen unterrepräsentiert sind, sondern auch so manche Weltregion und Altersgruppe. Die anderen roten Fäden – Technisches, Programmiererisches und Bürokrato-Chapterisches – waren eher für andere gedacht als für mich.
Danke.
Wenn mein Fazit auch gemischt ausfällt, ist es zumindest ehrlich. Gelohnt hat sich der Besuch der Wikimania auf jeden Fall und ich würde auch jedem dazu raten, einen Blick über den Tellerrand seines Heimatwikis, -projekts, -chapters o.ä. zu wagen und die Diversität der Bewegung auf sich einwirken zu lassen. Trotz aller Kritik geht das wohl an einer Wikimania noch mit Abstand am Besten.
Bedanken will ich mich abschließend bei allen, die zur Organisation und Durchführung der Wikimania beigetragen haben, bei allen, die durch gemeinsame Gesprächen, ihre Präsentationen etc. „meine“ Wikimania zu der machten, die sie war, und beim Scholarship Committee und Wikimedia Österreich für die mir mittels des Stipendiums entgegen gebrachte Wertschätzung. 謝謝. (Man77 00:49, 7. Okt. 2013 (CEST))